Behinderung und Vielfalt im Studium „lernen“

oder: Lektionen in Menschlichkeit

Die Welt ist vielfältiger als es der Alltag offenbart. Im Studiengang BWL-International Business der DHBW Mosbach wird das Bewusstsein dafür jetzt durch Menschen mit Behinderung lebensnah in die Lehre integriert.

Lieber gar nichts sagen als etwas Falsches sagen.“ Dieser Satz bringt die ganze Unsicherheit auf den Punkt, den viele Menschen ohne Behinderung im Kontakt mit Menschen mit Behinderung empfinden. „Statt unbeschwert und offen mit diesen Menschen in Kontakt zu treten, verschließt man sich – eine aus der Verunsicherung resultierende menschliche Reaktion, die aber nicht sein muss und sich recht einfach ‚umpolen‘ lässt“, sagt Professorin Eva Boder. Die Leiterin des Studiengangs BWL-International Business am DHBW-Standort Bad Mergentheim hat einen Weg gefunden, um die Perspektive von Menschen mit Einschränkungen in die Lehre zu integrieren: Sie lässt sie selbst über ihre Schicksale, ihren Lebensweg, ihre Erfahrungen und ihren Alltag reden.

Das kommt an. Die Reaktionen der Studierenden reichen von Zustimmung bis zu Begeisterung: „Mir hat es geholfen, offener mit diesem Thema umzugehen“; „Jungen Leuten wird so die Angst genommen, etwas Falsches zu Menschen mit Behinderung zu sagen“; „In der Schule ging es oft um die Gefahren von Drogen, im Internet oder um Mobbing – aber dieses Thema hatte ich noch nie“. „Wir bilden in unserem Studiengang die Fach- und Führungskräfte von morgen aus“, sagt Eva Boder. „Und das heißt, dass wir ihnen auch die ganze Vielfalt des Lebens vermitteln müssen, all die sehr unterschiedlichen Dinge, mit denen sie heute und in Zukunft konfrontiert werden – privat und im Beruf.“

Nicht über Menschen mit Behinderung reden, sondern mit ihnen

Wer kann das aber besser als die Betroffenen selbst? Nicht über Menschen mit Behinderung reden, sondern mit ihnen – das ist der neue Ansatz im Studiengang, wenn die „Grundlagen des interkulturellen Managements“ vermittelt werden. Die DHBW ist dazu eine Kooperation mit dem Annelie-Wellensiek-Zentrum für Inklusive Bildung – kurz AW-ZIB – der Pädagogischen Hochschule Heidelberg eingegangen. „Am AW-ZIB arbeiten Menschen, die als kognitiv beeinträchtigt gelten. Sie haben eine dreijährige Vollzeit-Qualifizierung zu Bildungsfachkräften erfolgreich absolviert. Jetzt geben sie in Bildungsveranstaltungen Einblicke in ihre Lebenswelten und teilen ihre Inklusions- und Exklusionserfahrungen“, erläutert die DHBW-Professorin.

Im International Business-Studium sieht dies konkret so aus, dass die Bildungsfachkräfte des Annelie-Wellensiek-Zentrums in Erstsemester-Veranstaltungen referieren und natürlich auch Rede und Antwort stehen. Ziel dieses Studienbausteins sei es, die Studierenden ganzheitlich zu prägen. „Es geht darum, Stereotype aufzubrechen und die Perspektive zu wechseln. Wir wollen gegenseitiges Verständnis aufbauen und die Vielfalt der Menschen wertschätzen lernen“, sagt Eva Boder. Dies seien letztlich wertvolle Fähigkeiten und Kenntnisse, die ein Studium dieser Art auch vermitteln müsse – und die den angehenden Fach- und Führungskräften für das Berufsleben wesentlich breitere Erfahrungen und Differenzierungsmöglichkeiten mit auf den Weg gibt.

Vom Job in der Behindertenwerkstatt zur Bildungsfachkraft

Pandemiebedingt traten beim ersten Durchlauf des Studienbausteins die Bildungsfachkräfte Thilo Krahnke und Helmuth Pflantzer vom AW-ZIB noch per Videoschaltung mit den DHBW-Studierenden in Kontakt. Sie berichteten über ihren langen Weg zur jetzigen Position, der für sie eine noch einmal ganz neue Perspektive bedeutet. Helmuth Pflantzer beispielsweise hat 22 Jahre in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet, was ja so etwas wie der der ‚Klassiker‘ für viele Menschen mit Einschränkungen ist. Im Projekt „Inklusive Bildung Baden-Württemberg“ wurde er in einer drei Jahre währenden Vollzeit-Qualifizierung zur Bildungsfachkraft ausgebildet. Heute arbeitet er in seinem Traumjob am AW-ZIB. Gefördert wird das Zentrum der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, die dieses Projekt auch wissenschaftlich begleitet, vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden Württemberg, dem Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg sowie der Familie Wellensiek.

Für die DHBW-Standorte Mosbach und Bad Mergentheim bedeutet die Verbreiterung der Studieninhalte um die Aspekte der Vielfalt einen wichtigen Schritt zur ganzheitlichen Prägung der Studierenden. „Die Bildungsfachkräfte berichteten über ihre Arbeit, ihre Lernerfahrungen, Wohnen und Freizeit, aber auch über Bereiche wie Behinderung, Barrieren und Barrierefreiheit, Teilhabe und Selbstbestimmung. Die überaus positiven Reaktionen zeigen, dass die Studierenden sehr dankbar sind für konkrete Einblicken in einen Bereich, der ihnen sonst in der Regel verschlossen bleibt,“ sagt Eva Boder. Die „Lektionen in Menschlichkeit“ werden nun fester Bestandteil im Curriculum des Studiengangs International Business.

Über das Annelie-Wellensiek-Zentrum für Inklusive Bildung

In den letzten Jahren wurde auch an Hochschulen intensiv über inklusive Bildung diskutiert. Viel zu selten wird hierbei jedoch die Perspektive von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt, auch und gerade in der hochschulischen Lehre zur Inklusion. Am AW-ZIB arbeiten Menschen, die als kognitiv beeinträchtigt gelten und vorab eine dreijährige Vollzeit-Qualifizierung zu Bildungsfachkräften erfolgreich absolviert haben. Das Zentrum nimmt eine Vorreiterrolle ein: Es ist - national wie international – das erste seiner Art, das als wissenschaftliche Einrichtung und Inklusionsabteilung an einer Hochschule verortet wurde. Seit dem Wintersemester 2020/2021 geben die Bildungsfachkräfte als fachlich und hochschuldidaktisch qualifizierte Mitarbeiter:innen unserer Hochschule in ergänzenden Lehrveranstaltungen Einblicke in die Lebenswelten sowie Inklusions- und Exklusionserfahrungen. Die Bildungsarbeit erfolgt dabei nicht nur an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, sondern auch an Partnerhochschulen und Bildungsinstitutionen im ganzen Bundesland. Diese Angebote sowie deren Wirkung werden zudem wissenschaftlich erforscht: www.ph-heidelberg.de/aw-zib

Kontakt

Prof. Dr. Eva Maria Boder
  • Studiengangsleitung International Business

Schloss 4
97980 Bad Mergentheim

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07931 1230-528
Fax
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E-Mail
evamaria.boder@mosbach.dhbw.de
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